Mittwoch, 01. Mai 2024

Archiv

Soziologische Studie
Wer Russe ist, der ist auch orthodox

Unter Wladimir Putin ist die russisch-orthodoxe Kirche eine wichtige Stütze der Staatsmacht geworden. Wie sehen die Russen die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche? Und was bedeutet ihnen Religion? Soziologen haben dazu eine neue Studie veröffentlicht.

Von Thielko Grieß | 18.05.2017
    Wladimir Putin und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill
    Patriarch Kyrill und Präsident Putin (picture alliance / dpa / Foto: Sergey Guneev)
    Anfang Mai im Kreml: Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, weihen gemeinsam ein Mahnmal ein, das an den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch erinnert, ein Zarensohn im 19. Jahrhundert. Kirchenführung und Staatsspitze betreiben gemeinsam Geschichtspolitik - in Russland ein häufiges Bild. Populär ist die Kirche dennoch nicht.
    Leere Kirchen
    "Wir haben festgestellt, dass uns in Russland nur sechs Prozent der Erwachsenen geantwortet haben, dass sie wöchentlich in den Gottesdienst gehen", sagt Alan Cooperman vom Pew Center, einem der wichtigsten US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitute.
    "Der Anteil von Russen, die angeben, sie würden täglich beten und regelmäßig in die Kirche gehen, hat sich im Vergleich zu 1991 nicht groß verändert. Und das, obwohl die religiöse Identität immer stärker betont wird."
    Orthodoxie als nationales Identitätsmerkmal?
    "Religiöse Identität" machen die Sozialforscher an verschiedenen Befunden fest: So ist der Anteil derjenigen, die sich selbst als orthodox fühlen, stark gestiegen - von 37 Prozent Anfang der 90er Jahre auf heute 71 Prozent - mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Russlands. Warum führt das nicht zu vollen Kirchen? Die Antwort der Forscher: Religiöse Identität verbindet sich mit nationaler Identität.
    "Wir haben gefragt: 'Wie wichtig ist es, orthodox zu sein, um ein echter Russe zu sein?' Und 57 Prozent der Erwachsenen in unserer Befragung sagten, es sei wichtig oder sehr wichtig, orthodox zu sein, um als Russe zu gelten."
    Die Forscher liefern ausdrücklich keine Deutung, wie die widersprüchlichen Antworten der Befragten zu erklären sind. Einerseits antwortet eine Mehrheit, die Orthodoxie sei wesentlich für die Zugehörigkeit zu Russland, andererseits wird durchaus begrüßt, dass auch Nicht-Orthodoxe oder Atheisten zur Gesellschaft gehören. Hinweise darauf, wie dieser Widerspruch zu verstehen ist, liefern andere Daten des Pew Centers: Russland wird als Zentrum und Schutzmacht der orthodoxen Welt verstanden - und zwar nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas.
    Orthodoxe sind häufig konservativ
    Neha Sahgal vom Pew Center: "Im Allgemeinen haben wir herausgefunden, dass Länder mit einer orthodoxen Mehrheit beständig zu sozial-konservativen Werten neigen."
    So lehnen 85 Prozent der befragten Russen Homosexualität als moralisch verwerflich ab. In Armenien sind es 98 Prozent, am wenigsten unter den orthodox geprägten Ländern im EU-Mitgliedsland Griechenland.
    Diese Zusammenhänge zwischen Religion und nationaler Identität sind für den Moskauer Soziologen Roman Lunkin kein Beleg dafür, dass in Russland eine demokratische und säkulare Entwicklung ausgeschlossen ist:
    "Es gibt eine bestimmte Offenheit und innere Demokratie - ungeachtet der Propaganda im Fernsehen. Bei der Frage, ob die Kirche vom Staat unterstützt werden sollte, sagt die Hälfte der Russen: Nein! Und das, obwohl wir so eine Art orthodoxen Staat haben. Das bedeutet viel."
    Staat und Gerichte schaffen indes Fakten: Erst in der vergangenen Woche ist ein Student zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung auch deshalb verurteilt worden, weil er in einer Kirche das Handy-Spiel "Pokemon Go" benutzt und sich dabei gefilmt hatte. Das Gericht erkannte ihn unter anderem für schuldig, die Gefühle Gläubiger verletzt zu haben.